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Das große Glück –

                       Mein Tag hat noch 23 Stunden


Der Gründonnerstag 1996, es war der 4. April, zeigte sich eigentlich als ein Tag, an dem man im Bett liegen bleiben möchte. Schneetreiben und nasskalt. Kein Wetter, das einen zum Skilaufen auffordert. Dennoch ging ich, nachdem wir es am Vortag vereinbart hatten, mit meinem Schwiegersohn Burkhard auf Tour zum Hochkar.

Bei der Auffahrt konnte man schon deutlich erkennen, wir zählen zu den Exoten, die sich heute hier einfinden werden.

So fuhren wir bei schlechter Sicht und nasskalten Bedingungen durch unpräparierte Pisten mit schwerem Schnee so ziemlich alle Pisten bis die Oberschenkelmuskulatur brannte. Am Nachmittag war der Wunsch groß, nach Hause und in die Koje legen. Beine hoch und ausruhen. Auf dieser Fahrt nach Hause haben wir dann im Tal die Schneeketten von Auto entfernt. Eine willkommene Gelegenheit, einen „fahren“ zu lassen. Gedacht, getan. Doch oh Schreck, da kam mehr als Luft. Nichts Festes. Durchfall? Das konnte nicht sein, denn der Darm hatte sich absolut nicht gemeldet. Na ja, am Campingplatz wird man schon sehen.

So ging es zurück zum Campingplatz nach Lunz und dort auf die Toilette. Blut in der Unterhose. Was hat denn das zu bedeuten? Setzen auf die Schüssel und drücken. Ein Blutschwall fand seinen Weg nach außen. Gedanken über Gedanken. Na klar! Die inneren Hämorrhoiden waren durch das kalte Sitzen und die Anstrengung beim Skilauf aufs äußerste gereizt und zeigen dies nun. Als aber die starken Blutungen am Freitag noch nicht aufhörten und in der Nacht auf Samstag noch immer massiv waren kamen die unterschiedlichsten Gedanken.

Ist es doch etwas anderes? Wie viel Blut hast Du inzwischen verloren? Welche Blutmenge produziert mein Organismus täglich? Kann man bis Montag bleiben oder muss man vorzeitig abreisen? .......

Das man bis Montag bleiben kann, zeigte sich am Ostersonntag. Die Blutung hatte nachgelassen und es waren nur Spuren von blutigem Schleim am Kot zu finden. Die Entscheidung, zu Hause sofort zum Arzt zu gehen, war innerlich bereits gefallen.

Zu Hause angekommen, war eigentlich alles normalisiert. Es fanden keine Blutungen statt. Nur wenig blutiger Schleim haftete dem Stuhl an. Eigentlich eine Situation, die keinen Arzt benötigte.

Dennoch rief ich gleich am Dienstagmorgen in der Praxis Dr. W. an. Der AB teilte mir mit, dass wegen Urlaub die Praxis erst am 15. April 1996 wieder geöffnet sei. Also Anruf bei Dr. S. um mir etwas gegen Blutung der inneren Hämorrhoiden verordnen zu lassen. Dennoch blieb ein Termin bei Dr. W. im Hinterkopf. Ausmachen sollte den Dr. N., da beide sich kennen und dadurch ein Termin sicherlich früher zu erhalten ist.

Durch einen Anruf am 16. April 1996 teilte mir Dr. N. mit, dass ich am 17. April 1996, um 14.30 Uhr, einen Untersuchungstermin bei Dr. W. habe.

Ohne größere Bedenken trat ich nach Autotausch mit Sandra in die Praxis Dr. W. ein. Aufnahme der Personalien, Eintreten in das Wartezimmer, Warten auf den Aufruf; alles ging seinen normalen Lauf. Aufruf durch Frau Dr. H., um die Krankengeschichte (Anamnese) aufzunehmen. Erneutes Platznehmen und überbrückendes Lesen im abgedunkelten Wartezimmer. „Herr Löser, bitte Kabine 1.“ schallte es aus dem Deckenlautsprecher.

Kaum in die Kabine eingetreten, schallte es mir aus dem Untersuchungszimmer entgegen: „Bitte unten herum freimachen.“ Gehört, getan und schon stand ich nur mit Strümpfen und Hemd bekleidet im Untersuchungszimmer. Platz nehmen auf dem „Spezialstuhl für Hinternangelegenheiten“. Zurücklegen und schon begann die Untersuchung. Einfetten des Afters mit Gleitmittel. Dann das Gefühl, der Schließmuskel weitet sich wie beim Absondern einer größeren Menge festen Stuhls. Ich höre (fühle) in mich hinein als mich Dr. W. Stimme fragt, ob ich schon pensioniert sei. Mit Hinweis auf mein Alter verneinte ich und musste hören: „Erst 44 Jahre?“

Nach der Untersuchung durfte ich mich aufsetzen. Ein sorgenvolles Augenpaar schaute mich über eine Brille an und fragte: „Wie reden wir miteinander?“. „Offen!“ sagte ich spontan.

Dann wurde mir offenbart, dass ich ein tief liegendes Geschwür am Mastdarm habe. Eine Operation sei unumgänglich und ein lebenslanger künstlicher Ausgang aus seiner Sicht notwendig. Während dieser Erklärung/Offenbarung, die ich nicht als Todesurteil empfand, sah ich auf die Uhr. Sie antwortete mir: 14:58 MI 17.04.

Nun setzte ein Gedankengewitter gleichzeitig mit einen leichten Tränenfluss ein. ´Wie sage ich das Anita?´ war der am häufigsten auftretende Gedanke der nach kurzer Zeit meine alten Eltern und Schwiegereltern einschloss.

Einige Zeit durfte ich mich alleine im Arztzimmer aufhalten bevor es dann mit weiteren Untersuchungen des Bauchraumes weiterging. Nach rund einer Stunde Untersuchung durch Abtasten und mit Ultraschall konnte man mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass keine Metastierung vorliegt. In einer solch schwierigen Situation nur ein geringer Trost.

Anziehen und wieder Platz nehmen und weiter mit dem Arzt besprechen. Aber immer noch die Gedanken wie und was sage ich meiner Familie? Meine Bitte um Hilfestellung an Dr. W. wurde mit dem Hinweis beschieden, doch zu sagen, man habe eine Gewebeprobe entnommen und man müsse noch auf das Ergebnis warten.

Sofort sah ich bildlich einen Strohhalm an den sich Anita klammern würde. Aber nur wenige Tage, denn dann wird das Ergebnis, das ich bereits kenne, das offizielle werden müssen. Jetzt zu lügen, dass wäre der größte Vertrauensbruch, den ich meiner Lebenspartnerin antun könnte. Das hat sie wahrlich nicht verdient.

Damit stand mein Entschluss fest: Offen und hart, auch wenn es sehr schwer fällt!

Mit einer Dienstunfähigkeitsbescheinigung bis auf weiteres, einer Verordnung über Rizinusampullen und vielen Tränen in den Augen machte ich mich wie ein angeschlagener Boxer auf den Weg nach Linden. Den Versuch, in der benachbarten Apotheke die verordneten Medikamente zu besorgen brach ich nach einer kurzen Zeit ab und entschied mich, diese in eine der Lindener Apotheken zu holen.

Nach der Besorgung der Medikamente ging es nun zum Autotausch zu Sandra. Ich war nicht in der Lage ein Gespräch zu führen. Ich konnte nur nach dem Schlüssel greifen, den anderen zurückgeben und weinend zu meinem Auto laufen, besser gesagt: flüchten. Sandra lief mir nach, um die Diagnose zu erfahren. Schluchzend konnte ich sie aussprechen, während Sandras tröstende Hände meine Haare streichelten.

Nun ging es nach Hause in die Herderstraße 12. Kaum, dass das Auto auf dem Parkstreifen hielt, stand Anita in der Haustüre um zu erfahren, was denn los sei. Was ich genau sagte, wie ich es sagte, ich weiß es nicht mehr.

Es galt für mich jetzt, alle von meiner Krankheit indirekt Mitbetroffenen zu informieren. Die Schule, den Handballverband, die Leichtathleten. Dann stand es natürlich an, den Rest der Familie zu informieren. Mittwoch ist ja Kaffeetag, also konnte die Information so in Allendorf den Eltern und der Schwester bekannt gegeben werden. Hier war natürlich bei meinen Eltern der Schock sehr groß, so groß, wie ich es befürchtet hatte.

Planungen für die nächsten Tage wurden gemacht. Es galt noch Holz umzuschichten und gegebenenfalls zu spalten. Fahrt mit der Familie, speziell mit der Enkeltochter ins Taunuswunderland am Freitag oder Samstag. Die Frage: "Was kann ich mit dem Enkelchen nach der OP noch alles unternehmen?" war gegenwärtig. Dinge wie Handballtabellen und Kurslisten sollten noch vor Montag, dem Antrittstag im Krankenhaus, vervollständigt sein. Folglich gab es viel zu tun und so packten wir, Anita und ich, es an.

Es waren noch schöne Tage mit viel Action. Am Sonntagmorgen stand die Sportlerehrung der Stadt Linden an, bei der Anita und ich geehrt wurden. Diese Ehrung erfolgte verbunden mit einem Brunch. Um 17.00 Uhr hatten wir Sekretär/Zeitnehmer beim Handball-Bundesligaspiel TV Hüttenberg - ????.

Danach galt es noch private Dinge zu erledigen wie: Meinen noch vorhandenen After und den letzten Stuhl zu fotografieren.

Der Montag, 22. April 1996, war der Tag an dem ich in das St.-Josefs-Krankenhaus einrücken sollte. Zuvor stand noch ein Besuch bei Dr. W. an, um die Röntgenbilder und andere Unterlagen abzuholen. Anschließend, nachdem sich Anita den Tumor auf einem Röntgenbild hatte zeigen lassen, fuhren wir ins St. Josefs-Krankenhaus.

Nach Erledigung der üblichen Formalitäten bezog ich Quartier im Zimmer 151. Unterbrochen von vielen Ausflügen nach Hause, zu den Eltern und den Schwiegereltern wurde die Darmreinigung durchgeführt. Letzte feste Nahrung vor der Operation gab es am Mittag. Auf dem Speisenplan standen Schinkennudeln die ich genoss. Danach gab es Astronautenkost, Tee in jeder Form und .... Einläufe en masse.

In der Zeit des Wartens auf die Operation war es hilfreich von Anita nach Großen-Linden geholt, nach Königsberg und Allendorf gefahren zu werden. Das lenkte ab und machte stark. So stand auch am Mittwoch, 23. April, in Allendorf das übliche Kaffeetrinken auf dem Plan. Leider konnte ich den leckeren Kuchen nicht probieren denn ich durfte ja absolut nichts mehr an Nahrung aufnehmen. Trotzdem hatte ich einen intensiven Kaffeegeschmack im Mund, den ich mit auf den Weg ins Krankenhaus nahm. Bei der Verabschiedung konnte man deutlich feststellen, dass die Eltern irgendwie an Grenzen der psychischen Belastung angelangt waren. Von Erzählungen weiß ich inzwischen, dass mein Vater kaum ein Wort sprach, dafür aber sehr viel weinte.

Im Krankenhaus angekommen begann ich meine Sachen zu verpacken, denn am nächsten Morgen mussten diese aus dem Zimmer. Anschließend hatte ich noch Besuch von meinem Operateur, Dr. H.. Hier galt es noch eine wichtige und schwerwiegende Entscheidung zu treffen. "Zaubern" oder radikal? Zu gut deutsch: versuchen den  Schließmuskel zu behalten oder großzügig Darm mit Schließmuskel entfernen.

Natürlich folgte meine Frage nach (möglichen) Konsequenzen des "Zauberns". Mir wurde mitgeteilt, dass die Möglichkeit gegeben sei, nach wenigen Jahren vielleicht zu einer erneuten Operation an dieser Stelle des Körpers einrücken zu müssen.

Ja, jetzt eine solch weitreichende Entscheidung treffen! Nach kurzer Zeit des Überlegens und Abwägens sagte ich mit Bestimmtheit und voller Überzeugung: "Radikal!" (Anm.: Ich habe es bis heute, nach über 20 Jahren, nicht bereut.)

Das Länderspiel der Fußballnationalmannschaften von Deutschland und den Niederlanden waren Begleiter in den letzten Schlaf mit körperlicher Unversehrtheit.

Am nächsten Morgen zu gewohnter Zeit Fieber, Blutdruck und Herzfrequenz messen. Austeilen der OP-Kleidung (Thrombosestrümpfe, OP-Hemd) und der LMAA-Tablette mit genauer Anleitung wie und vor allem wann diese einzunehmen ist. Mein Zimmerkollege, vom OP-Termin her vor mir an der Reihe, nahm seine Tablette, legte sie unter die Zunge und schon war er eingeschlafen. Wenige Minuten später wurde er Richtung 3. Stock (OP-Bereich) entführt.

Um 10.00 Uhr legte ich meine LMAA-Tablette unter die Zunge, um sie „genüsslich“ zergehen zu lassen. Um 10.30 Uhr trat ich meine Fahrt zum OP-Saal an. Bettverlängerung abbauen, damit man in den Aufzug passt. Lagerung der Kleidung und persönlichen Sachen auf dem Bett und ab ging es.

Gaffer auf den Gängen wussten wohl was ansteht und schauten sich das „Opfer“ genauestens an. Auf den letzten Metern, bevor es in die Schleuse ging, erkannte mich eine Arbeitskollegin von Anita.

Mein Erinnerungsvermögen sagt mir, dass ich mich beim Transport über die Schleuse mit einem OP-Helfer angeregt unterhalten habe. Aber kurze Zeit später nur dunkle Nacht, keine Erinnerung bis ich auf der Wachstation vor Kälte und vor Schmerzen wimmernd an der Hand meiner Frau aufwachte.

Also war der Teil überstanden. Meine treu sorgende Frau streichelte unentwegt meine linke, kalte Hand, während ich auf Befragung eines Arztes?/Krankenpflegers? bereitwillig Auskunft gab über mein Wohlbefinden.

Am Morgen des nächsten Tages traute ich meinen Ohren nicht, als ich aufgefordert wurde aus dem Bett aufzustehen um mich zu waschen. Einen Tag nach der OP aufstehen um mich zu waschen. Wie sollte das gehen mit dem vernähten „Riesenschnitt“ vom Nabel bis zum Schambein? Aber man bestand darauf, dass ich zum Waschen das Bett verlasse.

Nachdem im weiteren Verlauf des Vormittags „alle Werte stimmten“, erfolgte nachmittags ein Wechsel in ein Einzelzimmer auf Normalstation. Nun konnte ich Besuch empfangen und mir mein Laptop bringen lassen, um gewisse Arbeiten zu erledigen.

Was dann in der Folgezeit kam war normaler Krankenhausalltag, der nicht weiter beschrieben werden muss. Der Diagnosebrief der ein tiefsitzendes Adenocarzinom des Rektums (pT2N0) auswies wurde mir überbracht. Dennoch sollen 2 weitere Daten ausdrücklich erwähnt werden, die den Operateur Dr. H. sehr zufrieden stimmten:

Samstag, 26.04. um 20:40 Uhr 1. Luftabgang über den angelegten Anus praeter

Montag, 28.04. um 13:20 Uhr 1. Stuhlentleerung

Nachdem ich ausreichend Zeit zur Genesung und körperlichem Aufbau hatte, war es mir eine Notwendigkeit, eine Leiter der noch anzustrebenden Ziele zu erstellen. Sie hatte viele Sprossen und ich kann in der Nachbetrachtung sagen: Ich habe sie bis zur letzten Sprosse erklommen.

Es war Sonntag, der 5. Mai 1996. Ich hatte Besuch von meiner Frau Anita und wir wollten gerade Kaffee trinken als das Mobiltelefon klingelte. Ich nahm das Gespräch an. „Guten Tag Herr Löser, hier ist Klitsch. Ich weiß um Ihre gesundheitliche Situation und bitte diesen Anruf zu entschuldigen. Aber wir sind hier in der außerordentlichen Jahreshauptversammlung des Campingclubs Königsberg und die Wahl des 1. Vorsitzenden steht an. Aus den Reihen der Mitglieder gibt es nur einen Vorschlag, nämlich Sie. Entschuldigen Sie bitte nochmals, aber ich bin gebeten worden Sie anzurufen. Würden Sie die Kandidatur annehmen?“ Nach einer kleinen Pause entgegnete ich: „Meine Frau ist gerade hier. Geben Sie mir fünfzehn Minuten Zeit und rufen Sie dann bitte noch einmal an.“

Die verbleibenden 15 Minuten dienten der Beratung. Fazit: wir haben in der Vergangenheit Kritik geübt, deshalb muss man bereit sein, auch in dieser schwierigen Situation, Verantwortung übernehmen.

Beim Rückruf wurde die Zusage der Kandidatur ausgesprochen. Das Ergebnis war eine einstimmige Wahl zum 1. Vorsitzenden des Camping und Caravan Club Königsberg e.V..

Die Folgezeit wurde mit „Rehatraining“ (Spazieren gehen auf dem Flur und bei gutem Wetter im Garten) verbracht. Bei einem der nächsten Besuche von Anita und Sandra gab es „Rehatraining“ im Garten mit einer klaren Ansage durch Sandra. „Ich habe ab 01. Juli Urlaub in Kiskalesi (Südtürkei) für uns alle gebucht. Sieh zu, dass du mit kannst. Gebucht ist gebucht!“. Schluck.

Ab diesem Zeitpunkt hieß es „intensiver Aufbautraining“ zu betreiben. Dazu gehörte auch ein Tennisspiel mit Anita, am Donnerstag, 30. Mai 1996, fünf Wochen nach meiner OP. Die Genehmigung dazu holte ich mir am 28. Mai in der Sprechstunde von Dr. H. mit dem Versprechen, nur aus dem Arm zu spielen, keine Sprints durchzuführen, den Bauch und Anus praeter intensiv zu bandagieren und bei auftretenden Schmerzen sofort das Spiel einzustellen.

Wieder war eine Sprosse auf „meiner Genesungsleiter“ bestiegen.

Was jetzt noch wichtig war zu entscheiden: Bestrahlung ja oder nein. Bei der Entscheidungsfindung zeigte sich die unterschiedliche Bewertung durch Ärzte im Bekanntenkreis. Bestrahlung mit Chemo, ausschließlich Bestrahlung, keine weiteren Maßnahmen aber Reha auf alle Fälle. Mit solchen Statements muss man als Laie klar kommen.

Also wurde in der Familie die Entscheidung getroffen: weder Chemotherapie noch Reha. Lediglich zu einer Bestrahlung einigten wir uns eine letzte Bewertung und Empfehlung durch einen Radiologen im Kreiskrankenhaus Wetzlar einzuholen. Als auch hier bei dem Gespräch keine klare Aussage getroffen wurde/werden konnte stand der von mir und meiner Ehefrau Anita gemeinsam getragene Entschluss fest: keine Bestrahlung mit Hinnahme aller möglichen Konsequenzen.

Recht schnell kam der 01. Juli 1996 mit unserem Flug über Istanbul nach Adana und anschließenden 14 Tagen Urlaub in Kiskalesi. Hier sollten weitere Sprossen der Zieleleiter erklommen werden. Im Meer baden stellte keine große Aufgabe oder ein lohnenswertes Ziel dar. Interessanter war es, vom Strand zur in rund 500 m Entfernung liegenden Wasserburg zu schwimmen. Nach einigen „Schwimmproben“ im flachen Wasser und Ruhepausen am sandigen Strand verabschiedete ich mich zu einem weiteren Badeaufenthalt im strandnahen Wasser von Anita. Das Ziel war klar. Ich wollte zur Burg schwimmen. Also machte ich mich auf den Weg. Ich weiß nicht nach welcher Zeit ich stolz wie Harry aus dem Wasser stieg und den Zurückgebliebenen, von denen nach meiner längeren Abwesenheit Anita schon ahnte was ich plante, freudig zu winkte.

Bezüglich meiner Stomaversorgung machte ich während dieser Schwimmzeiten eine neue Erfahrung. Der Kleber weicht sehr schnell auf und die Versorgung löst sich. Aber dies war nicht die einzige Erkenntnis im Zusammenhang mit dem Stoma.

Ich habe bezüglich der Darmentleerung auf eine Beutelversorgung verzichtet und mich für die Irrigation entschieden. Dabei werden ca. 1,5 – 2 Liter Wasser in den Darm, ähnlich eines Einlaufes, geleitet. Dann beginnt der Darm mit einer Entleerung.

Dieses eingeleitete Wasser hat nun in türkischen Leitungen nicht die Reinheit des bisher benutzten deutschen Leitungswassers. Die Folge: DURCHFALL. Mit einem Stoma ein durchschlagender Erfolg. Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber man lernt dazu. Also wurde das Wasser abgekocht bevor es zur Irrigation verwendet wurde.

Im September, vier Monate nach der OP, wurden die Aufgaben der Lehrertätigkeit wieder übernommen. Allerdings mit reduzierter Stundenzahl. Ein weiterer Schritt auf der Leiter der postoperativen Ziele war erfolgt.

Nachdem kurz nach der OP einfaches Tennisspiel angesagt war wurde jetzt Aufbautraining in Richtung Medenspiele 1997 betrieben. Spielaktivitäten in der Halle zeigten: das Ziel ist realistisch. Und so kam es. Die Medenrunde wurde für den TC Linden bestritten. Der Weg zum Ende der Zieleleiter wurde kürzer.

Im Januar 1999 kam ein kleiner gesundheitlicher Tiefschlag. Ein Basaliom (weißer Hautkrebs) wurde am linken Nasenflügel diagnostiziert und entfernt. Glücklicherweise streut diese Art Krebs nicht und verläuft laut medizinischer Fachliteratur in der Regel nicht lebensbedrohlich.

Wenige Monate später sollte ein anderer Tiefschlag die Lebenshoffnung erschüttern. Am 26.04.1999 wurde bei mir die Diagnose Zweittumor Plasmozytom-Myelom Typ monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz (Ig G lambda) durch Prof. P. diagnostiziert. Vorausgegangen war eine nicht abklingende Entzündung der Haut um den anus praeter mit vielen Facharztuntersuchungen. Aber ohne Ergebnis.

Mit der Diagnose selbst konnte ich nichts anfangen und war auch in der mir zugänglichen medizinischen Fachliteratur nicht zu finden. Deshalb dachte ich rufe einen Fachmann an, Dr. N. in der Orthopädischen Klinik Braunfels.

Das diese Diagnose nichts Gutes bedeutet/bedeuten kann wurde mir bei diesem Telefonat klar. Nach einem allgemeinen Wortwechsel bat ich dann um Hilfe der Übersetzung der Diagnose in eine laienverständliche Sprache. Hier wurde Eckhard recht wortkarg um nicht zu sagen still und beendete das Gespräch mit dem Hinweis er müsse zur Visite. Aber man würde diese Diagnose in aller Ruhe besprechen. Dazu kam es aber erst am 12.09. bei einer familiären Geburtstagsfeier.

Am 09.05.2000 trug ich der Diagnose: „solitärer Gallenstein, der die gesamte Gallenblase ausfüllt, so dass diese keine Reservoirfunktion mehr hat“ Rechnung. Ich folgte dem Ratschlag: Gallenblasenentfernung.

Während des Krankenhausaufenthaltes hörte ich von einer Vollsperrung der Bundesstraße 3 kurz vor Bad Nauheim wegen eines schweren Unfalls. Später sollte ich erfahren, dass hier eine ehemalige Schülerin aus unerklärlichen Gründen tödlich verunglückt ist.

Im sportlichen Bereich fehlte jetzt nur noch das für mich ehemals so erfolgreiche Speerwerfen. Mir war klar, hier treten enorme Belastungen im Bereich Bauchdecke auf. Der künstliche Darmausgang mit der unterbrochenen Bauchmuskulatur musste bestens bandagiert werden.

Ich erinnerte mich an meinen Gewichthebergurt aus früheren Krafttrainingstagen. Hier war die Möglichkeit gegeben, die Bauchdecke optimal zu stützen. Was lag näher, als kleine Versuchsreihen zu starten. Die Ergebnisse waren so vielversprechend, dass ich es wagte nach über 20 Jahren Speerwurfabstinenz bei den Hessischen Seniorenmeisterschaften am 10.06.2001 in Wetzlar zu starten.

Das Ergebnis war ein nie erwarteter zweiter Platz mit Einladung durch den Hessischen-Leichtathletik- Verband zu einem Länder-Vergleichskampf nach Falkenstein im Vogtland.

Hier sah ich mich am Ende der Zieleleiter angekommen. Das Speerwurfergebnis wurde 2003 in Friedberg mit dem Meistertitel im Speerwurf noch getoppt. Ex-Speerwerfer was willst du mehr?

Dass es so nicht weiter gehen konnte, war zu befürchten. Und so kam es wie es kommen musste. Bei einer Krebsnachsorgeuntersuchung im September 2007 weckte eine Hautveränderung auf dem Rücken die Aufmerksamkeit von Dr. W. . „Das gefällt mir gar nicht. Lass es einmal durch einen Hautarzt begutachten.“, sein Ratschlag an mich. Hautarzt? Noch nie ärztlicherseits Kontakt zu einem solchen gehabt. Wohin gehen, um in guten Händen zu sein?

Also mussten die im Bekanntenkreis befindlichen Mediziner mit Ratschlägen herhalten. Bei der Betrachtung der kritischen Stelle meinten sie fast übereinstimmend: Keine Bedenken. Also ging ich ohne große Befürchtungen zur hautärztlichen Untersuchung.

"Das können wir engmaschig, halbjährlich, beobachten. Kein Grund zur Beunruhigung.", lautete die Feststellung des Hautarztes. Aber mein Vertrauen in Dr. W. war so groß, dass ich nicht locker ließ. Es folgte eine Untersuchung bei der Zellveränderungen in tieferen Hautschichten erfasst werden konnten.

„In der Tiefe haben in der Vergangenheit Zellveränderung stattgefunden.“ Diese Aussage ließ bei mir die Alarmglocken laut läuten. Mit der Aussage „Bei all dem was ich bislang schon hatte: Wehret den Anfängen!“ bat ich um Exzision (Herausschneiden) dieser Hautfläche. Dies erfolgte nach Terminvereinbarung. Lange musste ich auf die endgültige Diagnose warten, denn es gab Nachberichte. Am 23.11.2007 erfuhr ich die Diagnose, malignes Melanom (schwarzer Hautkrebs).

Die Nachberichte wiesen aus, dass das lymphgefäßhaltige Hautgewebe erreicht aber noch nicht infiltriert war. Puh! In einem zweiten Nachbericht wurde angeraten, eine Nachexzision durchzuführen. Diese wurde dann am 04.09.2008 von Prof. M. in der Hautklinik vorgenommen. Beim Einpacken des Präparats teilte er mir mit, dass ich sehr vernünftig gehandelt und entschieden hätte, denn dieser Tumor-Typ sei sehr aggressiv und streue stark mit Metastasenbildung in Lunge und Gehirn.

Dies waren im Großen und Ganzen in der Nachbetrachtung die gesundheitlichen Wehwehchen. Das Ende der Zieleleiter war ja schon mit dem Senioren-Hessenmeistertitel 2003 im Speerwerfen „überklettert“.

Dass ich dann mit Anita von 1986 bis 2011 Sekretär/Zeitnehmer bei Bundesliga-, Europacup- und Länderspielen 25 Jahre tätig war ist ebenso wie der Abschluss einer 30jährigen ehrenamtlichen Tätigkeit im Handball als z.B. Jugendwart, Mädelwart und Klassenleiter nicht als geplante Zielestufe zu sehen. Auch die Fortsetzung der Trainertätigkeit im Bereich Leichtathletik bis 2017 ist so zu bewerten.

Schön und emotional bewegend für mich als ehemaligen Leistungssportler, der Gewinn der Deutschen-Jugendmeistertitel der Enkelinnen Jasmine (2010) und Elisa (2011) im Kegeln auf der Scherenbahn. Jasmine nahm 2011 sogar an der WM in Brasilien teil.

Sinnbildlich hoch über die letzte Stufe der Zieleleiter hinaus ging es 2015 mit Erlangung der Privatpiloten-Lizenz für Flächenflugzeuge bis 2 t Gesamtgewicht.

All dies zeigt mir: Man muss Ziele haben und darf nicht permanent an Krankheiten denken.

 

PS: Kurze Erklärung zum Titel der Geschichte. Bei der Durchführung der Irrigation bin ich ca. 2 Stunden gebunden. Da ich jeden zweiten Tag irrigieren muss, fehlt mir täglich 1 Stunde "Bewegungsfreiheit".